Jupp Linssen
Formschatten

27. März - 10. April 2011


Yoku mireba / Nazuna hana saku / Kakine kana.

Wenn ich aufmerksam schaue, / Seh' ich die Nazuna / An der Hecke blühen.

Kontemplation im Vorübergehen, zweisam gewährender Genuss, Wahrnehmung des Zufällig-Schönen, das genauso verheißungsvoll ist, wie die Natur letzthin selbst. In seinem Haiku spricht der japanische Dichters Matsuo Basho* nun eigentlich nicht von dem, woran sich ein Kunstwerk heute messen lassen müsste. Wie sollte er auch. Ihm ging es eher um das Mitfühlen mit all jenen Dingen, die der Mensch sonst aus Unachtsamkeit (gern) übersehen würde; es geht um den Respekt und die Zuneigung, die jedwedem Wesen gebührt; es geht nicht zuletzt auch um die Schönheit des Alters. Gleichwohl klingt Bashos Haiku wie die Formel, nach der alle gute Kunst (heute) nun einmal funktioniert: Sie holt uns aus der Überforderung heraus, der wir verhaftet sind (sic!), das heißt, in der wir leben. Jener Überforderung, die für uns Alltag ist, die aus Rastlosigkeit und dem immerwährenden Vergleich und dem endlosen Streben nach mehr erwächst. Es gibt zu viel von allem und zu wenig Zeit, sich alledem halbwegs gerecht zuzuwen-den. Nur ein Kunstwerk scheint da noch in der Lage, den Ablauf der Zeit auszusetzen und uns (wieder) Raum zum Sehen zu schenken. Und so lautet die Formel für Kunst (heute): Kunst ist die Pause im Alltäglichen.

Nach derselben Formel arbeitet Jupp Linssen. Seit Jahren. Obschon ich mir sicher bin, dass er keine der hier hineinreichenden philosophischen Ideen tatsächlich für sich beanspru-chen würde. Doch vielleicht wirken gerade deshalb seine Arbeiten auf uns so offen vertraut. Weil ihre Gestalt für uns nicht fremd, sondern bekannt und dadurch angenehm anzusehen ist. Weil ihr Umgang mit Farbe kein artifizieller ist, sondern dem Leben abgeschaut. Weil jede Binnenzeichnung, die einer Blüte gleicht oder aber (bloß) ihrem Schattenspiel, die auch ein Wachstumskanal sein könnte oder aber eine Narbe nach gelebten Leben, weil all diese mäandernden, sich tief eingegraben oder erhaben obenauf liegend abzeichnenden Kapillaren sich an Erinnerungen anschließen, die wir bereits lange besitzen.

Jupp Linssen arbeitet mit jedem seiner Werke aufs Neue genau auf diese Erinnerungen hin. Für ihn sind es Formkonstanten. Fähig, ein Bild oder ein Objekt in der Realität zu verorten. Sie sind es, die in seiner scheinbar abstrakten (Kunst-)Welt aus schrundigen, manchmal zu Türmen aufeinander geschichteten, manchmal sich über weite Ebenen ergießenden Farb- und Materialzonen für Normalität und Melancholie, für echtes Gefühl und Wahrhaftigkeit verantwortlich sind. Nur weil sie es gibt, können dann Bildkörper durch Galeriewände wachsen, weiße Schatten auf zinkdunklen Flächen gedeihen und gratige Farbfelder in Gitternetzen rhythmisch übereinander schlagen. Weil die sie formende Erfindungsgabe des Künstlers Jupp Linssen nicht ohne Bindung zur Lebenswirklichkeit ist. Vielleicht nehmen wir ja deshalb die in diesen Arbeiten dargebotene Gelegenheit für eine Pause vom Alltäglichen nur zu gerne an. Weil bei aller Störkraft und Provokation, die die Formensprache des Künstlers unzweifelbar beherrscht, uns die Echtheit und Wahrhaftigkeit seiner Ideen, Welt(ein)sichten und Lebensentwürfe etwas von der Ruhe und Genussfähigkeit wiedergeben, die uns bisweilen im hehren Alltag schon abhanden gekommen sein könnten.

Text: Stefan Skowron, Aachen


Es erschien eine Edition sowie ein eigens zu dieser Ausstellung erstellter Katalog. Von diesem Katalog gibt es eine limitierte Vorzugsausgabe mit einer Originalzeichnung des Künstlers.

Die Eröffnung der Ausstellung fand am Sonntag, dem 27. März 2011 in der Zeit zwischen 11:30 und 16:00 Uhr statt. Die Ausstellung war bis Sonntag, dem 10. April 2011 jeweils freitags von 17:00 - 19:00 Uhr, samstags und sonntags von 15.00 - 17.00 Uhr zu besichtigen.